Schmerz – Warum es wehtut (Teil 1)

Fast jeder Fünfte in Deutschland leidet unter chronischen Schmerzen. Dennoch weiß man bislang wenig darüber, woher die Beschwerden kommen, die manchmal scheinbar aus dem Nichts entstehen.

Man vermutet jedoch: Erwartungen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wie diese wirken, wie sie sich beeinflussen lassen und warum Menschen einen physikalisch scheinbar gleich starken Reiz als unterschiedlich schmerzhaft empfinden, untersuchen verschiedene Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS).

Tomaten und Gurken schneiden für den Salat – zack, in den Finger geschnitten. Es tut weh – und die klassische Schmerz-Kaskade setzt sich in Gang: Die Verletzung aktiviert Rezeptoren in der Haut, Aktionspotenziale entstehen, die die Nervenbahnen entlanglaufen und bis ins Rückenmark wandern. Dort verarbeitet werden sie ans Gehirn gesendet und schließlich über verschiedene Ebenen an die Großhirnrinde geleitet. Der betroffene Finger wird aus der Gefahrenzone gezogen, er wird geschont, der Schmerz gelindert.

Schmerz ist nie neutral

Eigentlich, so Falk Eippert, Leiter der Forschungsgruppe „Schmerzwahrnehmung“ am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, ist Schmerz nichts anderes als eine weitere Sinneswahrnehmung, ähnlich dem Hören und Sehen. Auch er hat eigene Rezeptoren in Haut, Organen und Muskeln, die dem Gehirn den Reiz zuführen. Im Unterschied zu den anderen Sinnen enthält er jedoch neben der sensorischen Komponente auch eine emotionale, meist negative, Komponente. „Schmerz ist eigentlich nie neutral“, sagt Eippert.

Das Interessante dabei: Der subjektiv wahrgenommene Schmerz stimmt nicht immer damit überein, wie stark der eintreffende Schmerz tatsächlich ist. Physikalisch identische Reize können mal als weniger, mal als stärker schmerzhaft empfunden werden. Erwartungen, so Eippert, spielen dabei eine wesentliche Rolle. Das habe viel damit zu tun, wie wir die Welt wahrnehmen. „Wenn wir durch die Welt gehen, ‚erwarten‘ wir die ganze Zeit etwas, das als nächstes passiert, meist unbewusst“, erklärt er. Indem wir ständig von unserer Umgebung lernten, könnten wir oftmals aus der aktuellen Situation ableiten, was in der nächsten geschehe. Wahrnehmung ist demnach nicht nur etwas Passives, das sich aus den äußeren Reizen ergibt. Es speist sich auch aus den vorhandenen Erfahrungen – und den daraus abgeleiteten Erwartungen.

Schmerz hat viel mit Erwartungen zu tun

Übertragen auf Schmerz bedeutet das: Er setzt sich zusammen aus Signalen, die tatsächlich eintreffen, etwa durch eine schmerzhafte Bewegung, und aus denen, die aufgrund einer Erwartung erzeugt werden, also etwa in der Annahme, ein Stechen beim nächsten Schritt zu spüren. Eippert und sein Team wollen daher herausfinden, welchen Beitrag beide Bestandteile zur eigentlichen Empfindung liefern. Gelingt das, so die Idee, lassen sich die Ergebnisse auf chronische Schmerzen übertragen und daraus womöglich gezieltere Therapien für Betroffene entwickeln. Je nach konkreter Situation können sich dann einige mehr auf die mechanischen Schwachstellen konzentrieren, andere mehr auf die falsch programmierten Erwartungen.

Tatsächlich zeigte sich bereits, dass im Gehirn beide Signal-Arten getrennt voneinander verarbeitet werden können. Einige Bereiche kümmern sich hauptsächlich um die Intensität des eintreffenden Reizes, also die physikalische Information. Andere beschäftigen sich vornehmlich mit dem Unterschied zwischen dem vorhergesagten Schmerz und dem tatsächlich erfahrenen. Diese Signale werden aktiv, wenn man ein starkes Stechen erwartet, das dann aber nicht eintritt – und umgekehrt.

Schmerzverarbeitung

Um zu untersuchen, wie Schmerz wahrgenommen und verarbeitet wird, nutzen die MPI-Forscher unter anderem Verhaltenstests, mit denen sie den Unterschied zwischen erwarteten und tatsächlich auftretenden Signalen messen. Stark und leicht schmerzhafte Hitzereize lassen sie dazu mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten auftreten. Sieht eine Studienteilnehmerin etwa einen blauen Bildschirm, erhält sie über eine kleine Platte am Arm einen stark schmerzhaften Reiz – bei einem roten Bildschirm dagegen nur einen leicht schmerzhaften. Eine Assoziation zwischen „Blau“ und „starker Schmerz“ sowie „Rot“ und „leichter Schmerz“ entsteht – und damit eine Erwartungshaltung gegenüber den einzelnen Farbtönen. Bei einem erneuten Blau aktivieren sich die entsprechenden Neuronen bevor die Hitze überhaupt eintrifft. Tritt Blau plötzlich mit einem leichten Schmerz auf, lässt sich berechnen, welchen Anteil an der Schmerzreaktion die Erwartung hat.

Das Interessante dabei: Aufgetrennt werden diese beiden Arten an Informationen – physikalische und erwartete – vermutlich nicht erst im Gehirn, sondern womöglich bereits im Rückenmark, der ersten zentralen Verarbeitungsstelle für Schmerzen außerhalb der Kopfregion. Ließe sich, so die Vision Eipperts, bereits an dieser Stelle etwas an den Signalen ändern, wäre das effizienter als auf nachgeschalteten, höheren Ebenen, auf denen sich die Informationen bereits aufgefächert haben.

Die Fortsetzung dieses Artikels finden Sie hier auf prophylaxe-impuls.de am 10. Mai.

Quelle: Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS)