Diabetes-Epidemie

Diabetes ist nicht ansteckend, man kann ihm nicht mit Mundschutz und Handhygiene beikommen und auch Abstand zu halten, nützt nichts. Trotzdem breitet sich der Typ-2-Diabetes wie eine Epidemie weiter aus.

Die Erkrankungszahlen nehmen seit Jahrzehnten zu. Bei gleichbleibender Entwicklung rechnen Experten sogar damit, dass hierzulande bis zum Jahr 2040 bis zu 12 Millionen Menschen an Diabetes erkrankt sein werden.

Direkte und indirekte Gesundheitskosten gehen in die Milliarden, betont die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) während einer Hybrid-Pressekonferenz – moderiert von Dr. Eckart von Hirschhausen – am 13. September d. J. in Berlin: Neben volkswirtschaftlichen Kosten, für die die Solidargemeinschaft aufkommen müsste, käme das Leid der Betroffenen hinzu, das sich in verlorenen Lebensjahren und Einbußen in der Lebensqualität ausdrückt. Allein die direkten Krankheitskosten belaufen sich schon heute auf etwa 21 Milliarden Euro pro Jahr, hinzu kommen indirekte Kosten, die etwa für Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung anfallen. Die DDG dringt daher einmal mehr auf die rasche Umsetzung der 2020 beschlossenen Nationalen Diabetes-Strategie mit ihren Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention.

 

Deutliche Zunahme in den kommenden Jahren

Die Zahl der Menschen, bei denen ein Diabetes Typ 2 bereits sicher diagnostiziert wurde, liegt in Deutschland bei rund acht Millionen. „Hinzu kommen mindestens zwei Millionen Menschen, die einen noch unerkannten Typ-2-Diabetes haben“, sagte Professor Dr. med. Wolfgang Rathmann MSPH (USA), Stellvertretender Direktor des Instituts für Biometrie und Epidemiologie am Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) Düsseldorf. Die Zahl der Betroffenen werde in den kommenden Jahren noch deutlich zunehmen – was zum einen auf weiterhin steigende Neuerkrankungszahlen zurückgehe, zum anderen auf die erfreuliche Abnahme der Diabetessterblichkeit; im Durchschnitt liege die Lebenserwartung der Betroffenen jedoch noch immer vier bis sechs Jahre unter der gleichaltriger Gesunder. Ausschlaggebend hierfür sind die schwerwiegenden Folgeerkrankungen wie Schlaganfälle, Herzinfarkte, Netzhauterkrankungen bis hin zur Erblindung, Nierenversagen oder das diabetische Fußsyndrom mit Gefahr von Amputationen. Bei der Vermeidung und Behandlung dieser Folgeerkrankungen wurden in den vergangenen Jahren zwar Fortschritte erzielt, trotzdem müssten sowohl die Prävention des Typ-2-Diabetes als auch die Therapie der ambulanten und stationären Patienten noch deutlich verbessert werden.“

 

Risikofaktoren und Prävention sind bekannt

Die Folgen von Diabetes mellitus sind vor allem dann schwerwiegend, wenn die Erkrankung über lange Zeit unentdeckt bleibt oder die Erkrankung unzureichend therapiert wird. Die beeinflussbaren Risikofaktoren für die Entstehung einer Diabetes Typ 2-Erkrankung sind hinreichend bekannt: ein zu hoher Konsum von ungesunden Speisen, mangelnde Bewegung und daraus resultierendes Übergewicht. Die Spirale der ungesunden Lebensweise zurückzudrehen, liegt aber nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen. „Auch die Politik und Gesellschaft müssen hierbei im Sinne von Verhältnisprävention Hilfestellung leisten“, so Eckhard. Das fange mit einer verständlichen Aufklärung an, reiche über Bewegungsangebote in Kitas und an Schulen bis hin zur Einführung eines verpflichtenden Nutri-Scores für alle Lebensmittel sowie ein Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel.

 

Kosten vs. Nutzen

Doch Präventionsmaßnahmen kosten Geld – dessen sind sich die DDG-Experten bewusst. Die Maßnahmen, mit denen sich eine Diabetes-Erkrankung verhindern lässt, sind jedoch ungleich günstiger als die äußerst kostenintensive Therapie und Nachsorge. Der enorme medizinische und wirtschaftliche Nutzen einer wirksamen Prävention liegen für den Experten auf der Hand. Zur Finanzierung sind aus Expertensicht Anstrengungen von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungsträgern erforderlich. Zunächst sollte aber die Lebenswelt Schule ins Präventionsgesetz aufgenommen werden.

Welche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention umgesetzt werden sollten, diskutierte die DDG gemeinsam mit dem Arzt und Moderator Dr. Eckart von Hirschhausen in Berlin. Zwei Beispiele: 

 

Beispiel 1: Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften

Nach dem Vorbild skandinavischer und angloamerikanischer Länder sollen auch in Deutschland Schulgesundheitsfachkräfte zum Einsatz kommen. Dies fordert eine Allianz medizinischer Fachgesellschaften, um die Bildungs- und Gesundheitsbiografien chronisch kranker Kinder, etwa mit Diabetes mellitus Typ 1, zu verbessern und die Inklusion zu fördern. Spezialisierte Pflegekräfte könnten Eltern und Lehrer entlasten. Schulgesundheitsfachkräfte leisten Erste Hilfe, sind Anlaufstelle bei Schmerzen und Vertrauensperson bei gesundheitlichen und psychischen Auffälligkeiten, sie beraten Kinder und Eltern zu Sucht, Ritzen, Stress, in Krisensituationen oder in Ernährungsfragen, melden den Verdacht auf Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung. Sie sind eine sehr gute Investition in die Jugend und damit in unsere Zukunft.

Für jede Schule eine Gesundheitsfachkraft

Jährlich erkranken hierzulande rund 3.500 Kinder und Jugendliche neu an einem Typ-1-Diabetes, immer mehr bereits im Vorschulalter. Obwohl ihre Versorgung dank moderner Insulinpumpen und kontinuierlicher Glukosemessung einfacher geworden ist, benötigen die kleinen Patienten*innen im Grundschulalter punktuell Unterstützung. Da Lehrkräften das medizinische Wissen dafür fehle, plädiert die Allianz medizinische Fachgesellschaften für die flächendeckende Etablierung von Schulgesundheitsfachkräften.

Modellprojekte in Brandenburg und Hessen

In skandinavischen und angloamerikanischen Ländern sind seit Jahren spezialisierte Pflegekräfte in Schulen tätig, die als „school nurses“ Kinder und Jugendliche in allen gesundheitlichen Angelegenheiten betreuen – und alle profitieren davon. Auch in Deutschland sind zwei Modellprojekte in Brandenburg und Hessen evaluiert worden. Das Gutachten (1) kommt zu dem Schluss, dass die Einrichtung von Gesundheitsfachkräften an Schulen machbar und ökonomisch sinnvoll ist und empfiehlt als Orientierungsrahmen einen Schlüssel von 1 : 700. An jeder Schule sollte eine Gesundheitsfachkraft tätig sein.

 

Beispiel 2: Diabetesprävention und Klimaschutz sind zwei Seiten einer Medaille

Eine gesunde Lebensführung mit körperlicher Bewegung und frischen heimischen Nahrungsmitteln ist die beste Vorbeugung gegen Diabetes Typ 2 – und schützt gleichzeitig das Klima.

Das gegenwärtige energieintensive Nahrungsmittelsystem ist wissenschaftlichen Berechnungen zufolge nicht nur für etwa ein Viertel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich, die den Klimawandel vorantreiben. Es schadet auch unserer Gesundheit.
Der übermäßige Konsum von gesättigtem Fett, Salz und Zucker trägt zur Entstehung von Diabetes mellitus Typ 2, Übergewicht, Krebs und Herzkreislauferkrankungen bei und verursacht damit Folgen, die das deutsche Gesundheitssystem jährlich mehr als 16,8 Milliarden Euro kosten (2).

Speiseplan für nachhaltige und gesunde Ernährung

DDG-Expertin Rubin empfiehlt daher eine Ernährungsweise, die ebenso nachhaltig wie gesundheitsfördernd ist (3). „Der Speiseplan ist unkompliziert. Es sollten pro Woche ein bis zwei Eier sein, ein Stück Fleisch und ein Stück Fisch, Milch und Milchprodukte dürfen sich auf 250 Gramm pro Tag belaufen. Den Rest sollten vor allem Gemüse, Obst und Getreide beisteuern“.  Denn Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und Nüsse werden in Deutschland zu wenig verzehrt, Fleisch jedoch zu viel. So zeigen Daten des Lancet Countdown Berichts 2020, dass die Haltung von Wiederkäuern – in diesem Fall hauptsächlich Rinder – im Jahr 2017 für 62 % der Treibhausgasemissionen des Landwirtschaftssektors in Deutschland verantwortlich war (4).

Regionale, saisonale, unverpackte Nahrungsmittel kaufen

„Die Produkte sollten frisch sein, regional und saisonal hergestellt“, betonte Rubin. Diese Lebensmittel sind im Allgemeinen ökologisch nachhaltiger als Produkte, die eingeflogen oder in mit fossilen Brennstoffen beheizten Treibhäusern angebaut werden (5) – wobei man nur zu unverpackten Produkten greifen sollte, um keinen Plastikmüll zu produzieren.

Der Verkehrssektor ist für ein weiteres Viertel der Treibhausgasemissionen in Europa verantwortlich. Damit treibt unsere auf fossilen Brennstoffen basierende Mobilität nicht nur den Klimawandel an (6); sie ist auch die Hauptursache für Luftverschmutzung im urbanen Raum (7) und fördert einen bewegungsarmen Lebensstil, der wiederum Adipositas begünstigt und damit nichtübertragbare Krankheiten wie Typ-2-Diabetes.

Aktiver Transport reduziert Luftschadstoffe und Krankheitslast

Von weniger Feinstaub, Ozon und Stickstoffdioxid würden fast alle Organe, Systeme und Prozesse des menschlichen Körpers profitieren: Konkret wäre nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Reduktion von Luftschadstoffen und Hitzestress mit einem Rückgang von Atemwegs-, Herzkreislauf- und Tumorerkrankungen insbesondere bei Menschen mit Diabetes verbunden (4, 8, 9). Regelmäßige körperliche Aktivität wiederum senkt das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, psychische Krankheiten, für Übergewicht und Adipositas – und damit Diabetes mellitus Typ 2 (6).

„Klimaschutz und Diabetesprävention sind zwei Seiten einer Medaille“, resümierte DDG-Geschäftsführerin Barbara Bitzer.  Verbraucher*innen könnten täglich mit ihren Entscheidungen Einfluss auf Klima und Gesundheit nehmen. Allerdings müssten auch die politisch Verantwortlichen endlich gesundheitsfördernde Lebensverhältnisse schaffen: „Es ist dringend notwendig, gesunde Lebensmittel von der Mehrwertsteuer zu befreien und gleichzeitig die Mehrwertsteuer für ungesunde Produkte anzuheben, Rad- und Fußwege auszubauen, Kindern und Jugendlichen täglich eine Stunde Bewegung in Kita und Schule zu ermöglichen und – wie es bereits internationaler Konsens ist – Kinder vor Werbung für gesundheitsgefährdende Produkte durch ein entsprechenden Verbot zu schützen.“

 


Literaturverzeichnis:  

1. Maulbecker-Armstrong C, Schulenberg D, Binder D (Hrsg.). Gutachterliche Stellungnahme im Rahmen von Projektphase IV des länderübergreifenden Modellprojektes „Schulgesundheitsfachkräfte“ in Brandenburg und Hessen. Dezember 2020.

2. Meier T, et al. Health care costs associated with an adequate intake of sugars, salt and saturated fat in Germany: A health econometrical analysis. PLoS One. 2015:10. e0135990.

3. Planetary Health Diet der EAT Lancet Kommission: https://eatforum.org/eat-lancet-commission/.

4. Watts N, et al. The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change: responding to converging crises. 2020.

5. Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Saisonal essen, regional einkaufen. https://www.stmelf.bayern.de/ernaehrung.

6. Giles-Corti B, et al. City planning and population health: a global challenge. Lancet. 2016;388, 2912-24.

7. European Commission. Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European economic and social Committee and the Committee of the regions – A European Strategy for Low-Emission Mobility. COM/2016/0501, Final COM/2016/0.

8. Brook R D, et al. Particulate matter air pollution and cardiovascular disease: An update to the scientific statement from the American Heart Association. Circulation. 2010;121,2331-78.

9. Chen K, Breitner S, Wolf K, Hampel R, Meisinger C, Heier M, von Scheidt W, Kuch B, Peters A, Schneider A, for the KORA Study Group. Temporal variations in the triggering of myocardial infarction by air temperature in Augsburg, Germany, 1987-2014. European Heart Journal. 2019;40(Issue 20, 21):1600-08. https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehz116.